Was ist der Unterschied zwischen Ihrer Gewerkschaft und den anderen Gewerkschaften? Sie plädieren für einen sanfteren Ansatz statt für harte Konfrontationen auf der Straße. Aber ist ein härteres Vorgehen nicht notwendig, um die Pläne der Regierung Arizona, beispielsweise in Bezug auf die Renten, zu verhindern?
Patrick: „Wir geben immer zuerst den sozialen Dialogen eine Chance, bevor wir zu Maßnahmen greifen. Wir bringen positive Vorschläge ein und schlagen selbst Lösungen vor. Denken Sie nur an Mobilitätspläne oder die Erhöhung der Essensgutscheine, für die sich die CGSLB stark gemacht hat. Und das versuchen wir auch zu tun.”
Gert: „Genau! Wir müssen proaktiv sein und die langfristige Perspektive im Blick behalten. Viele Herausforderungen gehen über Belgien hinaus: Geopolitik, Industrie, Arbeitsplatzverlust. Viele Menschen machen sich darüber Sorgen und erwarten, dass wir auch darauf Antworten finden. Man kann immer von der Seitenlinie aus schreien, aber letztendlich muss man sich doch an den Verhandlungstisch setzen. Für uns geht es bei den Sozialgesprächen auch darum, die Stimme der Arbeitnehmer in politischen Entscheidungen zu Gehör zu bringen. Gleichzeitig muss man aber auch der Unzufriedenheit der Menschen Ausdruck verleihen, denn die ist real. Deshalb haben sowohl wir als auch die FGÖD in der Vergangenheit an vielen Aktionen teilgenommen.“
Was werdet ihr tun, wenn die anderen Gewerkschaften doch beschließen, auf die Straße zu gehen oder zu streiken?
Gert: „Wir müssen dann zunächst prüfen, um welche Art von Aktionen es sich konkret handelt. Handelt es sich um eine große Demonstration, wie am 14. Oktober, dann ist das für uns in Ordnung. An diesem Tag wird es vor allem um die Karrieren der Menschen gehen, und darüber herrscht große Unzufriedenheit. Aber ich bin nicht für Aktionen, die die Industrie oder den öffentlichen Dienst komplett lahmlegen. Das kann nur als letztes Mittel erfolgen, wenn Verhandlungen keinen Sinn mehr machen und wir nur noch an einem toten Punkt angelangt sind. Der 14. Oktober muss also ein lauter, vielleicht sogar letzter Aufschrei der Arbeitnehmer sein. Aber am 15. Oktober muss man sich wieder an den Verhandlungstisch setzen, denn nur dort kann man wirklich etwas verändern.“
Patrick: „Die Aktionen, an denen wir teilgenommen haben, haben etwas gebracht. Im Januar fand eine Themenkundgebung für den öffentlichen Dienst statt. Das Bildungswesen hat diese Kundgebung für sich beansprucht. Die Aktion hatte zur Folge, dass die Laufbahn im Bildungswesen bei der Berechnung der Rente stärker gewichtet wird. Das beweist, dass gezielte Aktionen durchaus Wirkung zeigen.“
Kann man darauf vertrauen, dass die Regierung Arizona gute Vereinbarungen trifft? Jemand wie MR-Vorsitzender Bouchez hat bereits wiederholt gesagt: „Auch wenn die Gewerkschaften Reformen ablehnen, machen wir einfach weiter ...“?
Patrick: „Wir haben eine Regierung, in der sowohl auf flämischer als auch auf wallonischer Seite eine Partei vertreten ist, die nicht so gewerkschaftsfreundlich ist, nämlich die N-VA und die MR. Sie berücksichtigen die Meinung der Gewerkschaften weniger. Aber es gibt auch andere Parteien in der Regierung, die uns wohlgesonnen sind.“
Gert: „Das stimmt. Um Dinge zu ändern, finden wir bei anderen Parteien als der N-VA und der MR Gehör. Bei den Essensgutscheinen erhielten wir beispielsweise viel Unterstützung von der CD&V, Les Engagés und Vooruit. Als Gewerkschaft müssen wir auch mehr Vereinbarungen mit den Arbeitgebern schließen und die heiße Kartoffel nicht immer an die Regierung weiterreichen. Wenn man das weiterhin tut, bekommt man natürlich immer zu hören, dass mit Gewerkschaften nichts zu gewinnen ist.“
Patrick: „Für den öffentlichen Sektor sieht das natürlich anders aus. Wenn keine Vereinbarungen zustande kommen, entscheidet die Regierung. Aber dann haben wir immer noch die rechtlichen Mittel, uns zu wehren. Ich befürchte, dass wir dies in Zukunft tun müssen, da die angekündigten Maßnahmen völlig unfair und diskriminierend sind.“
Was bedeutet es, als kleinere Gewerkschaften in einem Land mit großen Akteuren zu stehen?
Patrick: „Dieses Bild trifft nicht immer zu. In bestimmten Bereichen des öffentlichen Dienstes, wie Polizei, Verteidigung und Bildung, sind wir ein großer Akteur. Bei der Polizei sind wir sogar die größte Gewerkschaft. Insgesamt mögen wir kleiner erscheinen, aber das bedeutet nicht, dass wir keine Stimme oder Vision haben. Wir vertreten unsere eigene Position und schließen uns nicht einfach anderen an.“
Gert: „Wir dürfen uns nicht wie Calimero verhalten. Wenn man eine Vision hat, sollte man sie auch äußern, auch wenn man damit allein dasteht. Es geht immer noch um die Meinung vieler Menschen. Auf nationaler Ebene sind wir mit der CGSLB die drittgrößte Gewerkschaft. Aber in immer mehr Unternehmen – das haben wir auch bei den Sozialwahlen gesehen – sind wir die größte oder zweitgrößte Organisation. In den Verhandlungen zählt nicht die Größe, sondern die Wirkung Ihrer Vorschläge. Schauen Sie sich die Erhöhung der Essensgutscheine an: Dank unserer Sommeraktion steht das jetzt im Koalitionsabkommen. Wir arbeiten derzeit an den Cafeteria-Plänen, auch das ist in den Koalitionsabkommen aufgenommen worden. Das zeigt, dass man mit starken Dossiers und klaren Vorschlägen wirklich etwas bewegen kann, und darauf bin ich stolz!“
Patrick: „Es geht in der Tat um starke Dossiers, eine klare Vision und gute Kommunikation mit starken, positiven Slogans. Die anderen Gewerkschaften sind oft negativ und „gegen“ etwas. Wenn man einen Punkt hat, den die Regierung nicht ignorieren kann, dann macht man einen Unterschied. Und wir verteidigen alle Beschäftigten im öffentlichen Dienst, nicht nur unsere Mitglieder.“
Gert: „Genau so finden FGÖD und CGSLB zueinander. Für uns geht es in der Tat nicht um die Institution Gewerkschaft, sondern um die Menschen, sowohl im privaten als auch im öffentlichen Sektor. Es sind ihre Probleme, die wir lösen wollen. Wir stärken uns auch gegenseitig. Ein gutes Beispiel dafür ist unsere gemeinsame Kampagne gegen Gewalt am Arbeitsplatz, die in Kürze starten wird.“
Was bedeutet die politische Unabhängigkeit von der CGSLB und FGÖD?
Gert: „Wir waren schon immer politisch unabhängig. Dennoch werden wir oft mit liberalen Parteien wie Open VLD oder MR in Verbindung gebracht, allein aufgrund unseres Namens und unserer Farbe. Aber „liberal“ in unserem Namen bezieht sich auf den sozialen Liberalismus, nicht auf eine politische Partei. Wir sind in keinem Parteibüro vertreten und haben sogar bessere Kontakte zu anderen Parteien als zu den liberalen. Unsere Wirkung entsteht nicht dadurch, dass uns eine Partei unterstützt, sondern dadurch, dass mehrere Fraktionen unsere Vorschläge aufgreifen und deren Wert anerkennen.”
Patrick: „Bei der FGÖD haben wir nicht einmal das Wort „liberal“ in unserem Namen, aber durch die blaue Farbe werden wir dennoch mit bestimmten Parteien in Verbindung gebracht. Das ist nun einmal so. Gleichzeitig müssen wir realistisch sein: Man braucht die Politik, um etwas zu erreichen. Man kann sich nicht abschotten, man muss das Gespräch suchen und seine Organisation sichtbar machen. Das tun sowohl die CGSLB als auch wir, indem wir aktiv den Dialog mit verschiedenen Parteien suchen.“
Gert: „Und lassen Sie uns klarstellen: Was wir erreicht haben, haben wir nicht Open VLD oder MR zu verdanken, sondern anderen politischen Fraktionen, die unsere Ideen aufgegriffen und anerkannt haben, dass sie Sinn machen.“
Es ist also kein Nachteil, dass Open VLD nicht mehr in der Regierung ist?
Patrick: „Überhaupt nicht. Auch während der letzten Regierung hatten wir kein wirklich gutes Verhältnis zur Open VLD. Das ist schade. Aber nun ja, Open VLD reicht Gesetzesentwürfe ein, um Gewerkschaften Rechtspersönlichkeit zu verleihen (um sie dann leichter vor Gericht bringen zu können), um die Gewerkschaftsprämie zu besteuern, um Menschen, die demonstrieren, und ich spreche hier nicht von den echten Randalierern, willkürlich aus einer Demonstration zu entfernen. Das sind doch seltsame Standpunkte für eine liberale Partei, die sich für Freiheit und freie Meinungsäußerung einsetzen sollte, oder?
Gert: „Wir haben in den letzten zehn Jahren nichts von der Open VLD gehabt. Nach jedem Wechsel des Vorsitzenden haben wir versucht, Kontakte aufzubauen, auch über Forschungsdienste. Aber das hat nie lange gehalten. Eine strukturelle Zusammenarbeit bringt heute mehr Nachteile als Vorteile mit sich, da die Open VLD nicht mehr mit der Lebenswelt der Arbeitnehmer, die wir vertreten, übereinstimmt.“
Die CGSLB hat angekündigt, das „L“ aus ihrem Namen zu streichen?
Gert: „Das ist richtig. Und wir sind mit unserem Vorhaben schon weit fortgeschritten. Sowohl bei den Mitgliedern als auch bei unseren Verwaltungsorganen besteht der Wille, unseren Namen zu ändern. Jede Umfrage hat unsere Vision bestätigt. Darüber hinaus arbeiten wir an einem Buch über unseren Sozialliberalismus, aber das geht noch weiter. Ich möchte erklären, wie wir die Rolle der Gewerkschaften heute und im kommenden Jahrhundert sehen. Das Leben der Arbeitnehmer entwickelt sich weiter, also müssen wir uns auch weiterentwickeln. Es wird kein alter Wein in neuen Schläuchen sein, sondern eine echte Veränderung unseres Images hin zu einer modernen Bewegung. Nach der Ankündigung dieser Pläne und unserer Vision von „Gewerkschaft 2.0” wurden wir sofort von Parteien wie CD&V und Les Engagés eingeladen. Man spürt, dass die CGSLB für einen modernen, auf Solidarität basierenden Syndikalismus steht. Wir wollen der großen, stillen Masse eine Stimme geben, die zwar noch engagiert ist, sich aber im klassischen Syndikalismus mit Streiks und Demonstrationen nicht mehr zu Hause fühlt.
Zur Rentenreform:
Gert Truyens: „Diese Regierung bestraft Arbeitnehmer, insbesondere Frauen, für Pech oder Pflegeaufwand während ihrer früheren Karriere. Das ist keine Reform, die den Menschen weiterhilft, sondern eine Reform, die Vertrauen zerstört.”
Patrick Roijens: „Arizona zielt außerdem vor allem auf Beamte ab. Außerdem rechnet man rückwirkend und ändert die Spielregeln nach dem Spiel. Das ist nicht fair.“
Eines der wichtigsten Themen, über die verhandelt werden muss, sind die Renten. Wir hören nur eine Kritik an den Plänen der Regierung von Arizona: „ungerecht“. Was ist an diesen Plänen so ungerecht?
Patrick: „Sehr viel! Ich nenne nur das Beispiel der Beamtenpensionen. Ich höre immer, dass sie eine hohe Rente haben. Aber man muss alles betrachten. Beamte beginnen mit einem niedrigen Gehalt. Nach 25 oder 30 Jahren befindet man sich in einer höheren Gehaltsstufe. Im privaten Sektor beginnt man mit einem Arbeitsvertrag zu einem guten Gehalt. Dort kann man viel leichter eine Karriere aufbauen als im öffentlichen Sektor. Ist es dann so unsinnig, diesen Beamten eine gute Rente zu geben? Man will nun die Karrieredauer anders berechnen. Man rechnet rückwirkend, man ändert die Spielregeln nach dem Spiel. Das ist nicht fair. Für einen normalen Beamten der Besoldungsgruppe C bedeutet dies wahrscheinlich 300 Euro netto weniger auf seinem Konto am Monatsende. Bestimmte Kategorien bleiben davon unberührt, ich denke dabei an die Selbstständigen, während ich den Premierminister sagen höre, dass jeder einen fairen Beitrag leisten muss.
Gert: „Und dann sprechen wir noch nicht einmal über die Diskriminierung, zum Beispiel von Frauen. Die Maßnahmen zielen auf Frauen ab. Die Rentenkluft zwischen Männern und Frauen wird größer. Nicht weniger als 49 % der weiblichen Arbeitnehmerinnen können ab dem nächsten Jahr bei vorzeitiger Pensionierung von der sogenannten „Malusregelung“ betroffen sein, einer Kürzung des Rentenbetrags. Sie erfüllen nicht die strengen Karrierebedingungen, die die Regierung einführen will. Arbeitnehmer müssen durchschnittlich 35 Jahre Teilzeitbeschäftigung nachweisen, um den Malus zu vermeiden. Damit bestraft die Regierung Arbeitnehmer für Pech oder Pflegeaufwand während ihrer früheren Karriere. Zum Beispiel eine Frau, die aufgehört hat zu arbeiten oder in Teilzeit gegangen ist, um sich um ihre Kinder zu kümmern. Diese Menschen werden nun rückwirkend sanktioniert. Die Regierung spricht von Harmonisierung, aber für mich klingt diese sogenannte Harmonie falsch.”
Werdet ihr diese Ungerechtigkeiten gutheißen?
Patrick: „Wir können das nicht akzeptieren. Wenn wir das informell ansprechen, bekommt man sogar die Antwort: „Dann müssen sie eben ein paar Jahre länger arbeiten.“ Aber das kann man nicht mehr nachholen. Man bestraft diese Menschen rückwirkend. Und wie soll man das nachholen, indem man bis zum 80. Lebensjahr arbeitet? Es ist inakzeptabel, dass man in die Vergangenheit zurückgeht und Menschen dafür bestraft, die damals Entscheidungen getroffen haben, ohne die aktuelle Gesetzgebung zu kennen. Das werden wir nicht zulassen.“
Patrick und Gert:
„Unser Standpunkt ist klar: Gewalt kann in keiner Weise toleriert werden – es ist eine wichtige gemeinsame Kampagne.“
Sie haben bereits die gute Zusammenarbeit zwischen FGÖD und CGSLB erwähnt. Eines der Themen, die behandelt werden sollen, ist Gewalt am Arbeitsplatz?
Patrick: „Wenn man die Erfahrungsberichte liest, die wir bereits in unserer Zeitschrift Argument veröffentlicht haben, bekommt man Gänsehaut. In jedem Koalitionsabkommen habe ich „Nulltoleranz gegenüber Gewalt“ gelesen. Aber wenn es um konkrete Maßnahmen der Politik geht, bleibt es still. Unser Standpunkt ist klar: Gewalt darf in keiner Weise toleriert werden. Keine Form: leichte Gewalt, schwere Gewalt, verbale Gewalt ... Nichts. Und sie muss sanktioniert werden. Verhängt alternative Strafen! Während Corona bekamen Menschen, die auf einer Bank saßen, eine Geldstrafe. Wendet dies auch bei Gewalttaten an. Damit sendet ihr ein Signal, dass dies nicht toleriert wird.”
Gert: „Gewalt betrifft auch Arbeitnehmer im privaten Sektor. Ich denke dabei nur an die Gewalt gegen Fahrer von De Lijn/TEC, Pflegepersonal, Gastronomie, um nur einige zu nennen ... Wir werden dieses Thema mit Erfahrungsberichten aus allen Branchen umfassend beleuchten. Es ist ein schönes Beispiel für die Zusammenarbeit zwischen der FGÖD und der CGSLB. Es ist unsere Aufgabe, den Geschehnissen in der Gesellschaft ein menschliches Gesicht zu geben.“
Interview:
Bert CORNELIS
Cindy WILLEM
Lesen Sie auch das Interview unter: https://www.aclvb.be/nl/artikels/tijd-voor-actie-zonder-stilstand